Dying Culture

(Ein Text aus „Morbus Animus„, der auch aus „Gespräche mit Goth“ sein könnte.)

Der Song steinalt, ein Klassiker.
Und er ist irgendwie allumfassend zutreffend.
Der kleine Kult-DJ aus L.A., der sich mit diesem Song für eine kurze Zeit unsterblich gemacht hatte, meinte aber eine andere Kultur, damals. Heute trifft jenes schneidende, brutale, durch den Verzerrer gejagte „Dying Culture, Dying Culture“ auch auf jene Culture zu, die gerade versucht, darauf zu tanzen.
Es war und ist ein kollektiver Irrtum, dass Kulturen kommen und gehen. Sie blühen auf, zerbröseln, stürzen ein, verbrennen zu Asche oder verrotten zu schwarzer Erde, um immer wieder neue Kulturen zu nähren. Das Problem heute ist, dass nichts mehr nachwächst, weil keiner mehr wachsen will. DJ @ workKultur ist nur noch die Summe aller Gesetze einer Gesellschaft, die sie nicht braucht, sich selbst auferlegt, weil ihr langweilig ist. Die perfekte Gesellschaft regelt alles und jeden und macht somit die Kultur überflüssig.
Wer muss, geht nicht wählen, sondern aufs Klo.
„Dying Culture, Dying Culture“
Kultur hatte früher auch mal was mit Ausdruck zu tun, mit Ideen – und mit STATE OF MIND. Heute fragen sich viele, wo dieser State eigentlich liegt? Anders Sein bedeutet heute nicht einmal mehr, kontrovers zu denken oder eine unpopuläre Meinung zu vertreten. Anders ist heute jeder. Einmal. Für 15 Minuten. Mindestens. Individualität ist der perfekte Deckmantel, unter dem im Endeffekt dann doch alle gleich sind. Das gleiche Leben leben, die gleichen Süchte pflegen, die gleichen Ängste hegen.
Und wirklich ein anderes Leben führen als die anderen, wer will das schon?
Pro-Test ist nur noch eine Kampagne der Konservativen für flächendeckende AIDS-Kontrollen bei Unverheirateten.
Die Jugend rebelliert nicht mehr, sie passt sich an, sediert sich selbst. Wir stopfen die nächsten Generationen wie die Weihnachtsgänse mit abgelaufenen Weisheiten voll.
rgendwann ist das Hirn so wund, dass man es nicht mehr benutzt, wenn keiner nach dem fragt, was man auswendig gelernt hat.
Zuerst zwingen sie ihren Nachwuchs in geschlossenen Räumen komische Handlungen an sich selbst zu vollziehen und nennen das Entwicklung. Die beaufsichtigte Menschwerdung ist ein Datentransfer, ein flächendeckendes Vollschreiben ultraschneller, unbefleckter Festplatten mit Leerdaten. Erziehung ist das handschriftliche Vervielfältigen des Datenmülls einer Gesellschaft, die außer Müll nichts mehr produziert, was Bestand hat. Unsere Bildung ist vergleichbar mit dem Ausdrucken und Abschreiben von Spam-Mails. Und sie dient ausschließlich dem Zweck, aus vernunftbegabten Wesenheiten Konsumenten zu formen.
Und irgendwann wissen sie nicht mehr, was sie tun.
Aber keiner vergibt ihnen.
Stattdessen belächelt man sie, wenn sie sich Oberflächlichkeiten unterwerfen und ihre mit Leerdaten vollgeschriebenen Festplatten in ihren Schädeln mit sedierenden Substanzen und audiovisuellem Dünnschiss abzuschalten versuchen.
Und wenn die Mode, der man sich unterworfen hat, endlich alles ist, was man zu haben glaubt, dann ist ihr unausweichlicher Abgang in die Peinlichkeit der Vergangenheit auch das Ende der Welt. Raver, Waver, Rocker, Punker, Emos, ach wären sie doch alle rechtzeitig zum Friseur gegangen und der Schmerz wäre ihnen erspart geblieben. Zeitlosigkeit gibt es nur im Jetzt, Vergangenheit altert und die Zukunft lügt. Die Lüge ist immer die Wahrheit von morgen.
Man muss sie nur oft genug wiederholen.
„Dying Culture, Dying Culture“
Welche Kultur hatte unser kleiner DJ aus L.A. gemeint, damals? Die Feierkultur, die Esskultur, das Märchen vom endlosen Wachstum?
Das Ideal vom süßen Brei, der niemals alle wird, ist längst Wirklichkeit. Das ewige Wachstum, das uns einst als Märchen, dann als Utopie und schließlich als greifbares Lebensziel verkauft wurde, ist allgegenwärtig und hat einen Namen.
Es heißt Krebs.
In der Außenwelt ist er ein ehernes Gesetz, eine Pflicht für den Bürger, ein Befehl. Und in den Menschen drin eine Krankheit. In beiden Fällen endet das Märchen tödlich.
Das ewige Wachstum tötet, auf den Straßen unserer Metropolen, in den exportierten Müllkippen der Schwellenländer, in den Wäldern unserer angeblich ehemaligen Kolonien.
Es wuchert und frisst sich durch unsere Organe und durch unsere Welt, wie die Tornados durch Südamerika.
Der Hunger unserer Grillhühner und der Durst unserer vermehrt biospritsaufenden Autos frisst schneller Schneisen in den Regenwald als ein Großbrand. Das ewige Wachstum löst unser Gehirn auf und frisst die Herzen unserer Kinder.
Hirngebrauch ist strafbar. Wer denkt, lenkt sich selbst und tanzt aus der Reihe. Das ist inakzeptabel. Der verantwortungsvolle Konsument denkt nicht.
Wer denkt, wird erschossen. Mit Spots und bunten Pillen. Also verrecken die wilden Gedanken unserer Jugend an den Thresen unserer Kleinstädte und in den U-Bahnhöfen unserer Metropolen.
„Dying Culture, Dying Culture“
Die Generationsverträge sind fristlos gekündigt worden. Wer seinen Kindern nicht mehr nützt, kommt ins Heim.Eltern weigern sich, erwachsen zu werden, versuchen so, dem Unausweichlichen zu entkommen, nämlich den eigenen Kindern als abschreckendes Beispiel zu dienen.
Aber nur, weil sich die Kinder nicht vor euch ekeln, heißt das noch lange nicht, dass ihr cool seid. Oftmals ist es die selbstzerstörerische Toleranz und das Mitleid, das ihr ihnen eingeprügelt habt, was eure Kinder veranlasst, euch zu ihren Parties mitzunehmen.
Es ist peinlich, wenn ein Ü40-Mensch bei einer Ü30-Party mit U20-Menschen „Fuck You I Wont Do What You Tell Me“ intoniert, obwohl er seit zehn Jahren nur noch das tut, was andere ihm sagen und nichts anderes von seinen Schutzbefohlenen und Untergebenen verlangt.
Die Rebellion frisst ihre Kinder nicht mehr auf, sie treibt sie einfach ab oder in den Wahnsinn. Nicht nur die Steuerzahler, auch die Gaukler und Querulanten sterben schneller, als sie nachwachsen.
„Dying Culture, Dying Culture“
Das Lied verstummt.
Cold End.
Verkackter Übergang.
Pause.
Und keine Droge der Welt kann diese Leere füllen

(Aus Morbus Animus)

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