Smalltown Boy (Auszug) aus „Gespräche mit Goth“

Aufzucht und Pflege werden von den immer gleichen ausdruckslosen Gesichtern geprägt. Du kannst dir deine Freunde nicht aussuchen und dein Leben nicht selbst gestalten. Nicht, weil man das nicht darf, sondern weil man nur diese eine kleine, piefige Welt kennt, von der man noch nicht einmal weiß, dass sie klein und piefig ist. Jeden Tag wird der immer gleiche Ablauf zelebriert, als Tugend gepriesen und wie eine Religion verbreitet: Aufstehen, Waschen, Frühstücken, Zähneputzen, in die altersbedingt zuständige Aufbewahrungsanstalt, „Du isst den Spinat immer wieder, bis du ihn nicht mehr auskotzt“, nach Hause, Abendbrot, Sandmann und dann ins Bett. Dort träumst du dann von Feen und von sprechenden Fröschen und wärst so gern ein edler Ritter oder wenigstens ein kleiner Prinz.

Mit den Märchen von ein paar verwegenen Gestalten, die manchmal zu Besuch kommen, schleichen sich Träume von einer anderen Welt in den kleinen Kopf, vielleicht eine erste spannende Geschichte von einem aufregenden Leben jenseits der Berge, weil HINTER den Bergen wohnte man ja schon.

An einen unsichtbaren Pflock auf dem Marktplatz, um den die an traditioneller Einfalt geketteten Menschen emsig und selbstgerecht ihre Kreise ziehen, wirst du eingespannt und dann sind es die gleichen Fratzen in unterschiedlichen Stadien der Verwesung, die dir sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Die Tage fädeln sich auf zu einer Jahreskette, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, warm, heiß, kühl und kalt, ein Möbiusbandwurm, der sich windet und einen alten Projektor antreibt, um Leben abzuspulen, die alle genau gleich aussehen: Schule, Ausbildung, Beruf, Frau, Kind, Hund, Haus, Rente … Mal mit Krieg dazwischen, mal ohne, mal Scheidung dazwischen, mal ohne. Vielleicht mal ein Herzinfarkt noch vor dem Abstellgleis oder ein Kind unter einem LKW, aber das sind eher die Ausnahmen.

Niemand bringt dir etwas anderes bei. Immer wird nur vorverdaute Nahrung verabreicht. Den Respekt vor Autoritäten muss man dir nicht einprügeln oder anerziehen, er ist schon in der Muttermilch.

Widerstand zwecklos. Saugen und schlucken.

Die kollektive Existenz als versteinerte, verknöcherte Tristesse, die sich für jedes Gefühl schämt und in ihrer stoischen Penetranz alles ausmerzt, was sie gefährden könnte. Die dir den Kopf aufreißt und mit alten Gedankenresten füllt. Diese Menschen haben ihre Träume längst ausgeweint und sich daran betrunken. Sie auszudrücken und zu gestalten ist ihnen fremd. Deshalb lachen sie dich aus, wenn du anfängst, davon zu erzählen. Sie kratzen dir das Staunen aus den Augen und lehren dich, dass Besoffensein ganz in Ordnung ist, setzen dich dicken Omis auf die Schenkel oder alten Männern auf den sich final doch noch einmal aufbäumenden Schoß.

Thomas Manegold "Gespräche mit Goth"Du wartest auf den Tag, an dem du dich gut fühlst. Seit du weißt, dass es Ostern Kaninchenbraten gibt und du erkannt hast, dass unter dem roten Bademantel und dem Wattebausch jener Mann schwitzt, dem du immer Bier vom Kiosk holen musst, ist nur noch der Geburtstag übriggeblieben. Ein Nachmittag voller reglementierter Anarchie und verordnetem Frohsinn.

Eigentlich ist es lustig, aber doch auf irgendeine Art traurig, die Menschen zu beobachten, wenn sie immer im Kreis herumrennen. Doch das Lachen vergeht, wenn sie dich zwingen mitzulaufen, wenn sie dir die Träume mit Spott und Verachtung austreiben wollen. Träume von großen Entdeckungen oder von einer Reise in 80 Tagen um die Welt. Du baust dir ein Flugzeug aus Papier, schickst es mit deiner Seele auf die Reise, das Flugzeug bleibt in der Dachrinne hängen und ertrinkt. …

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